Auf dem Weg der protestantischen Bibelschmuggler
Als im 16. Jahrhundert auch in Österreich die Reformation mit rasanter Geschwindigkeit aufgenommen wurde, ahnte noch niemand, dass das Bekenntnis zum Protestantismus sehr bald eine höchst gefährliche Sache werden würde. Denn bereits nach wenigen Jahrzehnten griff die Gegenreformation hart durch. Um der Vertreibung, dem Verlust von Haus und Hof, und sogar der eigenen Kinder zu entgehen, fristeten die Evangelischen in Österreich über fast 200 Jahre ein Dasein als „Geheim-Protestanten“. Auf abenteuerlichen, teils höchst gefährlichen Schmuggler-Wegen brachten sie Bibeln, Gesangbücher und Predigtsammlungen ins Land, um im Geheimen ihr Glaubensleben aufrecht erhalten zu können.
Die Pilgertour „Auf dem Weg der protestantischen Bibelschmuggler“ wurde vom Evang. Bildungswerk „Bildung zwischen Tauber und Aisch“ im Kontext der Sonderausstellung „Evangelische Migrationsgeschichte(n)“ im Museum Kirche in Franken angeboten. Sie fand vom 6.-10. September 2023 statt und spürte der Geschichte der Protestanten auf dem Wegabschnitt zwischen Bad Ischl und Schladming nach. Pilgerleiter Pfr. i.R. Dietrich Tiggemann schreibt:
Tag 1: von Bad Ischl bis Bad Goisern
Wir starten als 13-köpfige Gruppe in Bad Ischl auf dem sogenannten „Sole-Weg“ nach Bad Goisern. Dieser erinnert an die Salzgewinnung in den Bergen und den damit verbundenen Reichtum für das Land, macht uns aber auch klar: Die Arbeitenden im Bergbau - Frauen, Kinder und Arme - waren der äußerst gesundheits-schädlichen Situation ausgeliefert. Bei ihnen traf die Botschaft der Reformation von der „Freiheit eines Christenmenschen“ (Martin Luther) daher auf fruchtbarsten Boden. Denn die Menschen suchten in der Zeit sowohl nach Befreiung religiöser Angst vor Höllenstrafen als auch aus sozialer Bedrängnis. Im Heimat- und Landler-Museum in Bad Goisernhören und sehen wir mehr vom Leben der Protestanten, die als „Landler“ nach Siebenbürgen auswandern mussten. Über Hundertausende waren es in all den Verfolgungsjahren, von denen viele die Märsche nicht überlebten.
Das Verbot des Protestantismus und erstarken des Katholizismus machte evangelisches Leben im Laufe der Zeit immer herausfordernder. Daher nutzen vor allem wohlhabendere Protestanten aus dem Bürgertum und Adel das sog. „ius migrandi“ nach dem Augsburger Konfessionsfrieden 1555 und emigrierten. Für die süddeutschen Städte, die sie sich als neue Heimat wählten, war das ein Gewinn. Der ländlichen Bevölkerung war das erst nach dem 30jährigen Krieg Mitte des 17. Jahrhunderts möglich, als weite Gebiete Süddeutschlands durch den Krieg entvölkert waren und Höfe und Ackerland erworben werden konnten. Neben der Emigration gab es aber auch gezielte Ausweisungen teils großer Bevölkerungsgruppen. Die jeweiligen Landesherren hielten sich nicht an reichsrechtliche Bestimmungen, weil sie in den Geheimprotestanten Ketzer und politische Aufrührer sahen und wiesen sie gleichsam über Nacht aus. 1731/32 wurden auf diese Weise ein Fünftel der damaligen Bevölkerung mit über 20.000 Personen aus den Gebirgsregionen Salzburgs ausgewiesen, nachdem sich 19.000 mit Unterschrift zum Protestantismus bekannt hatten. Ein Großteil von ihnen ging nach Ostpreußen, ein kleiner Teil nach Holland, einige nach Georgia, USA. Angesichts dieser Ereignisse wurden die Geheimprotestanten in den habsburgischen Ländern unter Zwang umgesiedelt und nach Siebenbürgen transmigriert, da dieses zum Herrschaftsbereich der Habsburger gehört. Die Kinder mussten bei diesen Deportationen teils zurückgelassen werden. Den Nachfahren der Transmigranten aus dem „Land an der Ems“ in Oberösterreich glückten so genannte „Landlergemeinden“, andere Transmigrationen waren tragische Misserfolge. Die letzte Ausweisung aus Glaubensgründen in Europa fand im Jahr 1837 im Zillertal statt, wo 427 Personen ihre Heimat verlassen mussten[1].
Tag 2: von Bad Goisern zur Goiserer-Hütte
Ein Tag lang Aufstieg, um 1140 Höhenmeter miteinander zu bewältigen - auf diese Weise erleben wir am eigenen Leib die Mühsal der Bücherschmuggler: keine ausgetretenen Pfade, sondern schweißtreibendes Kraxeln in schwierigem Gelände. Oben angekommen suchen wir die „Kalmooskirche“ auf: eine natürliche Felshöhle, die in den härtesten Verfolgungszeiten den Geheim-Protestanten für ihre Gottesdienste als Notkirche diente und uns tief betroffen macht: Unglaublich, dass Menschen für ihre eigene Glaubensfreiheit solche Wege auf sich genommen haben!
Weil das religiöse Leben der Evangelischen nicht von einem Pfarrer oder Theologen geleitet werden konnte, nahmen einzelne aus ihrer Mitte diese geistlichen Aufgaben war, die wiederum auf evangelische Bücher angewiesen waren. Weil es illegal war, das evangelische Bekenntnis zu praktizieren, geschah es im Verborgenen. Innerhalb der Vierkanthöfe wähle man Andachtsräume, deren Fenster in den Hof zeigten oder man traf sich an abgelegenen Orten wie der Kalmooskirche. Doch die Hausandachten waren das Herzstück. Sie blieben auch nach dem Toleranzpatent (s. u.) wichtig, ebenso wie die geistl. Führungsgestalten[2].
Tag 3: von der Goiserer-Hütte nach Gosau
Nach 500 Höhenmeter Abstieg durchwandern wir das Gosautal bis Hindelang - vorbei an der evangelischen Kirche Gosau. Erst nach dem Toleranz-Edikt im Jahr 1781 durften wieder schlichte Bethäuser, dann auch Kirchen erbaut werden. Das erste Toleranzbethaus in Gosau konnte daher 1784 gebaut werden; 1864 wurde es dann Stein für Stein abgetragen und damit die evang. Volksschule gebaut. Die im neugotischen Stil gebaute Gosauer Kirche mit ihrem Altar und Taufstein aus Marmor vom Dachstein wurde dann 1869 eingeweiht.
Nach mehr als eineinhalb Jahrhunderten der Verfolgung und Unterdrückung sagte Kaiser Josef II mit dem Toleranzpatent von 1781 den Evangelischen in seinen Landen offizielle Duldung zu. Doch von der hohen Zahl an Übertritten zum Protestantismus waren die Behörden dann doch überrascht und schränkten diese dann durch Verordnungen wieder ein wie z.B. doppelte Stohlgebühren (Kasualgebühren). Ziel war nämlich keine Gleichstellung, sondern lediglich das Kirchwesen unter staatl. Kontrolle zu stellen und den Zwang im Bereich der Glaubenssachen einzustellen. Die Möglichkeit für den Bau neuer Bethäuser und Pfarrhäuser entfaltete und festigte jedoch das evangelische Leben. Endgültige Gleichberechtigung ermöglichte dann 1861 Kaiser Franz Josef I. mit seinen Protestantenpatent[3].
Tag 4: von Gosau nach Ramsau am Dachstein
In Ramsau erfahren wir von der bewegten und bewegenden Geschichte der Gemeinde. In nur drei Monaten hatten die Vorfahren 1782 ein stattliches Bethaus, später die neugotische wunderschöne Kirche erbaut. Unseren Kirchenführer, Herrn Knaus, Mitglied der evang. Kirchengemeinde Ramsau, erlebten wir als eine Persönlichkeit, die das unfassbaren Glücksgefühls der Evangelischen über die gewonnene Freiheit bis heute ausstrahlt und der uns voller Stolz einige der bis heute aufgehobenen Schmuggel-Bibeln- und Bücher zeigte.
Die protestantischen Bücher waren für die Geheimprotestanten von fundamentaler Bedeutung. Auf die Frage, wer ihn im evang. Glauben unterrichtet hat, antwortet Georg Neuwirth im Verhör: „Er wüsste keine andere lehrmeister als die buecher Und seine Eltern.“ Im Rahmen des individuellen oder kollektiven Studiums wurden die Bücher zur geistlichen Nahrungsquelle – und gehören so zum festen Bestandteil der geheimprotestantischen Glaubensbiografie. Besonders beliebt waren Gebetsbücher wie z.B. das „Paradiesgärtlein“ von Johann Arndt, aber auch Gesangbücher. Ins Landesinnere wurden die Bücher von Kaufleuten, Händlern, Fuhrleuten etc. geschmuggelt – und diese dann innerhalb der Familien und von einer Generation zur nächsten weitergegeben[4].
Tag 5: von Ramsau nach Schladming
Unsere Pilgertour findet nach einem anstrengenden, aber begeisternden Abstieg über 500 Höhenmeter ihren Abschluss an der evang. Kirche in Schladming. Resümierend wird uns nochmal klar: Auch wenn mit 1555 der Augsburger Religionsfriede proklamiert und die in der Confessio Augustana festgehaltene lutherische Konfession per Reichsgesetz anerkannt wurde, so war es bis zur tatsächlichen Akzeptanz des evangelischen Glaubens im Gebiet des heutigen Österreich ein steiniger, von Höhen, aber vor allem auch vielen Tiefen geprägter Leidensweg!
In der evang. Peter- und Paul-Kirche findet sich im Mittelfeld des Altarbilds eine Gethsemane- Darstellung mit Christus am Ölberg, das auf den Seitenflügeln von Petrus und Paulus flankiert wird. Jesus im Gebet angesichts des Todes – von dieser Christusfrömmigkeit ist das Luthertum geprägt, das die Menschen zum Durchhalten im Leid ermutigt. Ebenfalls im Kirchenraum zu sehen ist ein vierflügeliges Altarbild, das noch aus der Reformationszeit selbst stammt. Auf den Seitenflügeln sind ebenfalls Petrus und Paulus abbildet und in den Mitteltafeln die Schlange am Stab des Moses dem am Kreuz hängenden Christus gegenüberstellt. Der historisch bedeutsame Altar gilt damit als schönes Beispiel für ein sogenanntes Gesetz und Gnade-Bild. Es handelt sich dabei um ein lehrhaftes Glaubensbild: Der Mensch befindet in einem „Dazwischen“ und versucht, sein Heil durch gute Werke zu erreichen statt umgekehrt aus dem Glauben heraus Gutes zu tun. Auf der Rückseite eines der Flügelblätter steht das Zitat aus Röm. 3, 29, wonach „der mensch gerecht werde on des gesetztes werkh allein durch den glauben“ – das Wort „allein“ ist allerdings ausradiert. Doch das evang. Bekenntnis konnte nicht ausradiert werden. Die Kirche in Schladming ist heute mit 1000 Sitzplätzen die größte evangelische Kirche in der Steiermark[5].
Anhang:
Der „Weg des Buches“ ist ein Projekt der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich. Die ausgewiesene Pilgerstrecke beginnt in Ortenburg in Niederbayern und reicht z. Zt. bis Agoritschach in Kärnten. Sie soll gen Süden noch bis Triest in Italien ausgewiesen werden.
Die Bezeichnung A.B. verweist auf die lutherische Kirche, die nach dem Augsburger Bekenntnis von 1530 das „A.B.“ im Namen trägt. Die reformierte Kirche nennt sich nach dem zweiten helvetischen Bekenntnis von 1562 entsprechend „H.B.“ Im Zusammenschluss heißen beide Kirchen "A. und H.B." und arbeiten gemeinsam im Bereich des Religionsunterrichts, der Hochschulseelsorge, der Diakonie, in der Gefängnis-, Krankenhaus- und Militärseelsorge, sowie in der Jugend- und Frauenarbeit. In Gottesdienstfragen und bezüglich der Anstellungen von Pfarrer*innen arbeiten sie selbstständig. Mit Einführung des sog. Protestantengesetzes von 1961 sind die drei evangelischen Kirchen A.B., H.B. und A. und H.B gesetzlich anerkannt. Den höchsten Mitgliederstand erreichten die Evangelischen Kirchen in Österreich 1962 mit 430000 Menschen[6].
Zum „Weg des Buches“ gibt es das gleichnamige Buch:
Rudolf Leeb, Astrid Schweighofer, Dietmar Weikl (Hg.): Das Buch zum Weg – Kirche-, Kunst- und Kulturgeschichte am ‚Weg des Buches‘, 2. überarbeitete Auflage 2009.
Sowie eine Website: www.wegdesbuches.at
[1] aus dem Kapitel „Emigrationen, Ausweisungen und Transmigrationen“ von Dietmar Weikl, S 178ff, in: Das Buch zum Weg
[2] aus dem Kapitel „Das religiöse Leben der Geheimprotestanten“ von Dietmar Weikl, S. 172ff, in: Das Buch zum Weg
[3] aus dem Kapitel „Das Toleranzpatent von 1781 und das Toleranzbethaus“ von Astrid Schweighofer, S. 182ff, in: Das Buch zum Weg
[4] aus dem Kapitel „Die Bücher der Geheimprotestanten“ von Dietmar Weikl, S. 175, in: Das Buch zum Weg
[5] aus dem Kapitel „Der Protestantismus in Österreich in seiner Geschichte“ von Rudolf Leeb, S. 167, sowie S. 73ff in: Das Buch zum Weg; zudem https://de.wikipedia.org/wiki/Peter-und-Paul-Kirche_(Schladming) – abgerufen am 14. Feb. 2024
[6] aus dem Kapitel Die Evangelische Kirche A. und H.B. in Österreich heute“ von Michael Bünker, S. 153ff, in: Das Buch zum Weg